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HNU Health­ca­re Ma­nage­ment In­sights #9

15.02.2024, Dia­lo­ge :

In der Interviewserie befragt Prof. Dr. Patrick Da-Cruz wechselnde Expertinnen und Experten zu aktuellen Themen aus dem Gesundheitsbereich. Dieses Mal ist der HNU-Professor mit Dr. Matthias Brachmann zum Thema Notfallversorgung im Gespräch. 

Die Ge­sprächs­part­ner

Prof. Dr. Patrick Da-Cruz ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU) sowie wissenschaftlicher Leiter des MBA-Programms Führung und Management im Gesundheitswesen.
Vor seiner Tätigkeit an der HNU war Herr Da-Cruz bei namhaften Strategieberatungen im Bereich Pharma / Healthcare sowie in Führungsfunktionen in Unternehmen der Gesundheitswirtschaft im In- und Ausland tätig.

Prof. Dr. Patrick Da-Cruz

Dr. Matthias Brachmann ist seit mehr als zehn Jahren als Berater für Unternehmen und Krankenhäuser tätig. Nach dem Studium der Internationalen Volkswirtschaftslehre in Tübingen, Kyoto und Ann Arbor promovierte er an der Universität Witten/Herdecke.  Ende 2013 gründete er die bcmed für die strategische Beratung von Akteuren im Gesundheitswesen. Zuvor führte er mehrere Jahre lang als geschäftsführender Partner eine namhafte Krankenhausberatung. Dr. Brachmann ist Faculty Member des International Emergency Department Leadership Institute (Boston, USA) und Lehrbeauftragter für Krankenhausfinanzierung an der Universität Witten/Herdecke. Seit 2013 ist er zudem Mitglied des Professional Committee der European Society for Emergency Medicine. Für mehrere internationale gesundheitsökonomische und medizinische Zeitschriften ist er als Gutachter aktiv. 

Dr. Matthias Brachmann
Dr. Matthias Brachmann

Herr Dr. Brachmann, Sie sind Geschäftsführer der bcmed GmbH in Ulm. Was ist das Geschäftsmodell von bcmed und welche Rolle spielt der Versorgungsbereich „Notfallversorgung“ für Sie und Ihr Unternehmen?

Dr. Matthias Brachmann:Zunächst sind wir eine klassische Beratung im Gesundheitswesen. Wir arbeiten projektbasiert bundesweit hauptsächlich für Krankenhäuser, zählen aber auch Verbände und Organisationen sowie die Industrie zu unseren Kunden. bcmed steht für business consulting and management of emergency departments und die Organisation der Notfallversorgung ist unser Kerngeschäft. Da Notfall- und Terminpatientinnen und -patienten um die gleiche knappe Ressource – ärztliche und pflegerische Zuwendung – konkurrieren, kann die Versorgungsorganisation der einen Gruppe jedoch nicht ohne die andere gedacht werden.

Das deutsche Gesundheitswesen ist ganz allgemein durch einen erheblichen Reformbedarf gekennzeichnet. Wie ist es in diesem Zusammenhang um die Notfallversorgung bestellt?

Dr. Matthias Brachmann:In der Notfallversorgung hat sich in den letzten Jahren nur wenig getan. Das gilt leider für die gesamte Rettungskette von der Laienhilfe über die Leitstellen und Rettungsdienste bis hin zum Ärztlichen Bereitschaftsdienst und der Krankenhaus-Notaufnahme. Jeder Bereich für sich genommen hat erheblichen Reformbedarf. Es heißt aber nicht umsonst Rettungskette. Die Bereiche sind alle miteinander verbunden und eine Reform muss immer bereichsübergreifend gedacht und umgesetzt werden. Sonst werden die Probleme nur verlagert. Eine schlechte hausärztliche Versorgung beispielsweise führt zu einer erheblichen Mehrbelastung für Rettungsdienste, Notfallpraxen und Notaufnahmen.

Welchen gesundheitspolitischen Herausforderungen sieht sich die Notfallversorgung in Deutschland ausgesetzt und zu welchem Ergebnis führt dies im Vergleich zu Gesundheitssystemen anderer benachbarter Länder?

Dr. Matthias Brachmann: Die wichtigste Herausforderung ist der demographische Wandel mit all seinen Facetten. Durch die längere Lebenserwartung werden die Akut- und Notfallsysteme immer stärker mit geriatrischem Versorgungsbedarf gefordert. Zugleich sorgt das Ausscheiden der „Boomer“ (Generation der Babyboomer; A. d. R.) aus dem Arbeitsmarkt für einen enormen Fachkräftemangel, der zu noch knapperen personellen Ressourcen führt und durch den dadurch entstehenden Mangel an regulären Versorgungsstrukturen (Rückgang der Hausarztpraxen) noch mehr Belastung für die Akut- und Notfallmedizin bedeutet. Das Gebot der Stunde ist folglich, die Ströme der Patientinnen und Patienten gezielt in die richtigen Versorgungsebenen zu steuern und dort so effizient wie möglich zu arbeiten. In beiden Feldern kann die Digitalisierung einen wichtigen Beitrag leisten!

Unsere europäischen Nachbaren haben uns hier viel voraus. Während in Deutschland jeder Hilfesuchende mit Erkältungssymptomen sofort eine Ärztin bzw. einen Arzt oder sogar ein Krankenhaus aufsucht, steht in Großbritannien erstmal eine telefonische Beratung oder eine telemedizinische Konsultation an. Nur 10% der Hilfesuchenden benötigen dann noch einen persönlichen ärztlichen Kkontakt. In Niederösterreich befinden sich Rettungsleitstelle und ärztlicher Bereitschaftsdienst in einer Hand: die anrufenden Hilfesuchenden werden algorithmusbasiert befragt und die jeweils passende Versorgungsstruktur wird empfohlen. Über die elektronische Gesundheitskarte ist nachvollziehbar, ob die Patientin oder der Patient dann tatsächlich auch in diese Einheit gegangen ist. In Rumänien sind flächendeckend alle kleineren Notaufnahmen telemedizinisch an Notfallzentren angebunden. Die dort tätigen Ärztinnen und Ärzte können sich in die Schockraumversorgung einschalten und mit ihrer Fachexpertise unterstützen. Und das seit über zehn Jahren!

Zusätzlich hat sich im Ausland eine eigene Fachlichkeit zur Versorgung von Akut- und Notfallpatientinnen und -patienten entwickelt: emergency medicine / Notfallmedizin. Die ärztliche Standesvertretung in Deutschland kann sich jedoch mit der Einführung eines Facharztes bzw. einer Fachärztin für Notfallmedizin noch nicht anfreunden.

Welchen Einfluss übt in diesem Zusammenhang die für 2024 geplante Krankenhausreform auf die Weiterentwicklung der Notfallversorgung aus?

Dr. Matthias Brachmann:Der Einfluss ist substanziell und beginnt schon bei den Level-1-Krankenhäusern. Der Unterschied zwischen den ambulanten 1i-Häusern und den vollwertigen 1n-Krankenhäusern ist genau die Teilnahme an der stationären Notfallversorgung. Erfüllt ein Krankenhaus die Anforderungen an die Notfallversorgung nicht, wird es in den 1i-Status überführt. Da über diesen Reformschritt einige Kliniken nicht mehr an der stationären Notfallversorgung teilnehmen, die Zahl an Patientinnen und Patienten mit notfallmäßigem Behandlungsbedarf jedoch nicht zurückgehen wird, müssen die übrigen Krankenhäuser mit einer weiteren Steigerung an Notfallpatientinnen und -patienten rechnen und sich dementsprechend personell und räumlich vorbereiten.

Bedeutet die neue Krankenhausreform im Kern eine Aufwertung der bisher angebotenen Notfallstrukturen bzw. welche strukturpolitischen Maßnahmen sind dezidiert tatsächlich von Nöten?

Dr. Matthias Brachmann: Im Krankenhaustransparenzgesetz, das ja noch nicht durch den Vermittlungsausschuss ist, wird eine Leistungsgruppe „Notfallmedizin“ genannt. Kommt diese Leistungsgruppe tatsächlich zum Tragen, werden die Notfallleistungen der Kliniken in Deutschland erstmalig transparent. Schließlich wissen wir 2023 trotz einer kürzlich stattgefundenen Pandemie nicht, wie viele Patientinnen und Patienten pro Jahr in den Notaufnahmen behandelt werden. Ganz zu schweigen davon, wie die Patientinnen und Patienten versorgt wurden, ob sie lange gewartet haben und was ihre Versorgung gekostet hat. Allein über die Messbarkeit der Leistung ist eine wichtige Grundlage für Verbesserungen gelegt.

Der G-BA-Beschluss zur gestuften Notfallversorgung sowie die Prüfung der darin genannten Anforderungen durch den Medizinischen Dienst hat ganz erheblich zu einer Verbesserung der Notfallstrukturen beigetragen. Ein Teil der Anforderungen ist etwas in die Jahre geraten und aktuell spielen qualitative Aspekte noch eine untergeordnete Rolle. Ein Update des Beschlusses würde die stationären Notfallstrukturen weiter aufwerten.

Strukturpolitisch sind es insbesondere zwei Themen, die zügig angegangen werden sollten: eine bessere Verzahnung von Notaufnahmen und Notfallpraxen, deren Ausstattung und Strukturen zudem vereinheitlicht werden sollte, zum einen und zum anderen eine durchgehende Digitalisierung der Rettungskette. Hier besteht großer Nachholbedarf!

Was ist/bleibt Ihr größter Reformwunsch für das gerade begonnene Jahr 2024?

Dr. Matthias Brachmann:Mein größter Wunsch ist, dass es überhaupt zu einer Reform kommt. Aktuell scheinen die politischen Akteure nicht an einem Strang zu ziehen. Die Patientinnen und Patienten wie auch die Krankenhäuser und anderen Akteure in der Notfallversorgung brauchen aber strukturelle Veränderungen. Und das jetzt und nicht erst nach der nächsten Bundestagswahl.

Vielen Dank für das Gespräch!